stellen Sie sich auch gerne vor, allein und von Gott verlassen am Straßenrand zu stehen, einzig den tristen Blick zum leicht bewölkten Himmel zu richten, und zu glauben, den Wunsch in sich zu erkennen, sich niemals wieder einer verbrecherischen Autorität, gestützt auf die Missachtung jeglicher Löblichkeit, unterdrücken zu müssen?
Hurra, der kleine Rüdiger, so werde Ich genannt.
Rotzbengel Rüdiger, so nennt man mich.
Welch knorker Bub, welch frecher Bub, welch ganz und vollkommen redlicher schnuckeliger Bengel, so ruft man dort und dort auf Dorf und Feld.
„Die Wege des HERRn sind unergründlich.“
Niemand kann sagen, wohin er uns führt. Niemand kann vorausahnen, was er für das Schicksal des Einzelnen plant.
Ich jedoch bin mir sicher, daß mein Weg klar und verständlich vor mir liegt.
Seit einiger Zeit bin Ich der wahren Musik christlicher Güte verfallen. Gute, nette Schwermetallmusik, wie sie der HERR lieben und preisen lässt, so wie es sich gehört.
Ja, ja, ja, rief der Bub Bernhard doch: „Dummer Rüdiger, hör auf, solch Schund zu hören. STOP, sonst informiere Ich den Herrn Direktor, und du wirst büßen müssen, du Büßerbub.“
NEIN, habe Ich gebrüllt, daß mir die kleine Knabenspucke aus dem Mundwinkeln gesplittert kam, wie eine dumemr Hirsch, der dumm ist, Hurra.
Heute geschah es, da schickte Ich den Buben Bernhard mit befeuchteten Wangen, tränenden Augen und zwei großen violetten Flecken im Gesicht davon, auf daß er seine ketzerischen Ansichten anderenorts erzählen mochte.
Wie ein mächtiger Tiger habe Ich mir das kleine Hemd vom Leibe gerissen, hab es „wusch“ aus dem Fenster geschleudert, Hurra, meine muskulösen Muskeln strahlten in der strahlenden Frühlingssonne, und mein Bizeps musste selbst einen Vitali Klitschko in besten Jahren neidisch machen, ei, ei, ei, lief aufgeplustert mit dicken Backen zum Schrank hin, die Arme vom Körper ausgestreckt, als hätte Ich Rasierklingen unter den Achseln, öhhhhhhh.
Hööööö, stöhnte Ich, und schob das grobe Holzgehäuse zur Türe hin.
Hööööö, stöhnte wie ein Bär, während sich meine ganze Kraft, welche Ich mir durch aktuelle vegetarische Mittags-, Abends- und Morgenskost angeeignet hatte, in meinen Oberarmen fokussierte, auf daß der hölzerne Schrank vor die Tür geschoben wurde, hööööööö.
Keine Sekunde zu früh, um das alte Klischee der Rettung in letzter Sekunde auszumerzen, pollterte auch schon die wütende und auch traurige Stimme des dummen Direktor Strafflers vor meiner Tür.
Wollte, daß Ich öffne, wollte, daß Ich mich rechtfertige, ob all der Anschuldigungen, daß Ich Eier auf die anderen Internatsbuben und die heiligen dummen Kirchenpforten geworfen, daß Ich löbliche Schwermetallmusik höre, daß Ich anderen Knaben zwinge, es mir gleichzutun, daß Ich überzeugter Vegetarier geworden bin, daß Ich lieber Gummibären essen, als dem dummen HERRn in der dummen Kirche zu dienen. Denn wissen Sie was? Der Herr ist nicht perfekt. Einzig Ich bin perfekt. ICH, der die Musik des HERRn hört, ICH, der zu ihm wie ein Bruder, und nicht wie ein Buckelnder hinaufschaut, denn ICH bin der perfekte Mensch auf Erden.
Sapperlot, vergaß Ich doch, daß sich meine Tür nach außen hin öffnen ließ, nein, war also kein Problem für den dummen Direktor hineinzustürmen, den Schrank aus dem Weg zu hauen, und mir mir wütend, wie nie zuvor mit dem Rohrstock zu drohen.
Lasse das nicht mit mir machen, habe Herrn Direktor Strafflers Rohrstock entwendet, und ihn über dem Knie zerbrochen, breeechh, wie eine Weintraube im Munde zerplatzt, das entsetzte Gesicht des Direktors vor mir. Hurra, wie schön, solche unerklärliche Enttäuschung in diesem Gesicht zu erblicken.
Habe diesem Moment der seinerseitigen kompletten Schockstarre ausgenutzt, bin an ihm vorbeigehüpft, und ab hinein in den Korridor.
-Ich werde mich dieser verbrecherischen Autorität nicht beugen -
Keusche Rachegedanken wollten meine Schritte zum Buben Bernhard lenken, auf daß dieser Verräter vor dem HERRn für sein dummes Petzenverhalten büßen möge. Wollte auch denjenigen bespucken, der Herrn Direktor Straffler von meinen Vergehen auf der Arche Internetz berichtetet, sapperlot, dieser gemeine Lump wird noch von mir hören.
Wie dem auch sei, aufgebracht und wütend stopfte Ich mir ein Tomaten-Gruken-Brötchen aus biologischem Anbau in den Rachen, was wir verhalf, wieder klar zu denken. Wie vom Stier verfolgt stürmte Ich aus dem Internate hinaus, trug meinen gelagerten Vorrat an Gummibären und Brokkolistängeln in einen Beutel gestopft unter den Armen.
Ich blickte nicht zurück.
Ich lief davon.
Ich floh.
Ich akzeptierte meine Perfektion und das Wissen, daß mir Gott nicht mehr helfen kann.
Ich bin unfehlbar.
Gott ist fehlerhaft.
Er hätte nie den Fehler machen dürfen, mich zu erschaffen, denn Ich werde fortan ein Bild sein, den HERRn in seine Schranken zu weise.
Ich bin Perfektion.
Ich bin Ich.
Ich bin Rüdiger, Ich kehre nicht zurück, Ich lasse mich nicht herumschubsen, Ich tue, was mir gefällt, denn Ich bin perfekt, Hurra.
Trauern Sie nicht um mich. Ich hoffe aus tiefstem Herzen, Sie werden es mir eines Tages nach tun.

Hinfort,
Rüdiger Hermann, 10 Jahre alt, 27.03.2015
